Sei dankbar

Ein Erfahrungsbericht von Marcel Greco (Arzt auf einer bayrischen Intensivstation)

Im Hinblick auf diese Spezialausgabe rund um Corona wurde ich gefragt, ob ich denn etwas Positives als Klinikarzt zu berichten hätte.

Die Anfrage erreichte mich, als gerade ein knapp 70jähriger Patient während mei­ner Schicht an Covid-19 verstorben war. Die Erkrankung ereilte ihn plötzlich und genauso plötzlich und unerwartet war er dann gestorben. Ohne bekannte Gesichter an seinem Bett, gar ohne seine Frau, die zu Hause in angeordneter Quarantäne aus­harren musste. Nicht nur, dass ich der Witwe die tragi­sche Nachricht überbringen musste, ich konnte ihr nicht einmal einen Weg nen­nen, wie sie ihren verstorbenen Ehemann noch einmal hätte sehen können, um sich von ihm zu verabschieden.

Dieses Leid passt wohl kaum in die Rubrik Positives um Corona. Etwas, was Hoff­nung macht, musste her. Also suchte ich nach etwas Positivem und wurde in einer der nächsten Patientenbo­xen, wie wir unsere Patientenzimmer auf der Intensivstation nennen, fündig. Je­doch bemerkte ich auch hier sehr schnell, dass ich vom Positiven nicht berichten kann, ohne auf das Leid einzugehen.

In Zimmer 9 lag ein junger Familienvater (und mit jung meine ich wirklich jung; kaum älter als ich es bin). Auch er war seit einigen Tagen an Co­vid-19 erkrankt und musste auf Grund seines schlechten Befindens sogar künst­lich beatmet werden. Doch sein Zustand verbesserte sich zu­nehmend und nach einer Woche, die er nur dank zahlreicher Maschinen, starker Medikamente und dem liebevollen Zutun zahlreicher Krankenschwestern und Ärz­te überlebte, konnten wir ihn in deutlich gebessertem Zustand wieder von der Be­atmungsmaschine nehmen.

Doch wer nun glaubt, damit sei alles wie­der gut gewesen, der irrt gewaltig. Für den jungen Mann begann der Lei­densweg jetzt erst richtig, denn nach Be­endigung der betäubenden und abschir­menden Medikamente wurde ihm sein Zustand nun zum ersten Mal richtig be­wusst. Er war ans Bett gebunden; konnte weder frei sitzen noch seine Arme und Hände gezielt bewegen, um ein Glas zu greifen oder die Patientenklingel zu bedienen. Er brauchte noch immer Sauerstoff und selbst darunter klagte er anhaltend über Luftnot. CIP (Critical-Illness-Polyneuropathie) nennt der Mediziner schlicht das Phä­nomen, wenn betroffene Muskeln nicht mehr gezielt gesteuert werden können. Es tritt nicht selten nach mehrtägiger Beat­mung auf und lässt sich nur mit intensiver Beübung über viele Tage behandeln.

Doch das war nicht alles. Der Patient konnte kaum sprechen und schlucken, so kraftlos war er. Die Verständigung mit ihm gelang uns nur mühevoll, indem er unleserlich Wor­te auf eine kleine Tafel kritzelte und innig hoffte, wir könnten entziffern, was er da­mit meinte. Die Wünsche, die ein Mensch in solch ei­ner Situation äußert, sind primitiv, aber für ihn in diesem Moment von unver­kennbarer Wichtigkeit. Solch ein Wunsch kann lauten: „Kopfteil hoch“, „brauche Bettpfanne“, „Wasser“.

Und da stehe ich daneben, der ich noch Momente zuvor selber eigene Wünsche im Kopf hatte, die im Anblick dieses leid­geplagten Menschen mit dessen primitivs­ten Bedürfnissen nun fast schon zynisch wirken müssen.

Ich nehme an, dass auch du schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen bist. Es geht dir gut, du malst dir etwas Schönes aus, wünschst dich an einen besonderen Ort oder möchtest etwas Neues haben, und dann plötzlich taucht da ein unerwar­tetes Problem auf, eine Krise und deine zu­vor gedachten Gedanken wirken absurd, denn plötzlich ist die Normalität nicht mehr normal. Da ist ein geliebter Mensch in Lebensgefahr oder gar gestorben oder die eigene Existenz ist bedroht. Jetzt ist da nur noch ein Wunsch, der alles zuvor Ge­wünschte übersteigt und belanglos macht: „Gott, lass mich, (oder den Menschen, um den es geht) unbeschadet aus dieser Sache kommen. Hilf, dass es wieder so ist, wie es gestern noch war!“…

Mein Patient schämte sich seines Zustan­des so sehr, dass er uns nicht gestattete, eine Videoverbindung zu seiner Ehefrau aufzunehmen. So blieben ihm bei beste­hendem Besuchsverbot einzig einige Tele­fonate, bei denen er selbst jedoch nichts zu sagen vermochte.

Ein trauriger, bedauernswerter Zustand. Doch hierbei blieb es Gott sei Dank nicht. Mit Hilfe zahlreicher Therapeuten erzielte unser Patient täglich neue Fortschritte. Welche Freude war es nun, ihm beim Trinken zuzuschauen oder erst flüsternd, dann immer lauter Worte aus seinem Mund zu vernehmen. Mit Hilfe konn­te der Mann nun auch wieder für einige Minuten stehen. Er begann wieder zu essen und absolvierte erste Muskelaufbauübungen und unterhielt sich mit dem Personal.

Für sich genommen: Kleinigkeiten. Nichts Besonderes. Essen, Trinken, Stehen, Reden… kaum beachtenswert. Doch in diesem konkreten Fall: Faszination. Wiedererlangung alltäglicher Funktionen, ohne die unser aller Leben auf Dauer nicht möglich wäre. Diese Kleinigkeiten im Alltag lassen sich wohl nur für denjenigen als Faszination und Segen erkennen, der sie zuvor schmerzlich vermissen musste.

Was will uns diese Schilderung sagen? Was möchte uns ganz kon­kret Gott mit diesem Fall vor Augen führen? Nun, ich denke, er will uns auffordern, dankbar zu sein für die unzähligen Kleinigkeiten im Leben, an denen wir uns erfreuen sollen, die für uns aber still und leise Alltag geworden sind und damit unbemerkt und ungedankt bleiben.

Ein paar Beispiele: Hast du heute schon registriert, wie sich dei­ne Lungen ständig erneut mit lebensnotwendiger Luft füllen und gleich drauf wieder entleeren? (Das geschieht etwa 17.000 Mal am Tag!) Wie hat es sich zum letzten Mal angefühlt, deinem kleinen Hunger zwischendurch mit einem süßen Stück Marzipan zu be­gegnen? Warst du Gott dankbar für diese Gabe? Wann warst du dir zum letzten Mal des Zustandes bewusst, gesund zu sein? (Ich beziehe mich hier auf die individuelle Gesundheit, die jeder – auch der chronisch kranke – Mensch erfahren kann.)

Atme einmal gezielt tief ein und sei dankbar dafür, dass du das aus eigener Kraft kannst. Leider merken wir oft erst im Leid, wie gut es uns erging, bevor das leidvolle Ereignis eingetreten ist. Die Abwesenheit von Leid erscheint „normal“ und bleibt oft ungedankt.

Gott könnte dir mit dieser Krise begreiflich machen wollen, wie gut du es, gerade in Deutschland, eigentlich hast. In einem Land der freien Meinungsäußerung, in dem die Menschenwürde noch immer Bestand hat, in dem wir keinen ernsthaften Hunger leiden müssen (Sommerfahrten ausgenommen☺) und in dem wir in normalen Zeiten ungehindert zur Messe gehen können und unse­ren Glauben leben dürfen.

Diese Annehmlichkeiten sind KEINE Selbstverständlichkeit! In vielen Ländern sind diese Vorzüge seit langer Zeit so nicht mehr möglich. In Syrien zum Beispiel. Auch ohne Corona gab es dort schon Lebensmittelknappheit, fehlendes Trinkwasser, von anderen diktierte Vorgaben und wenig Möglichkeit der freien Entfaltung und teils Religionsausübung.

Vielleicht kannst du durch die großen und kleinen Einschränkungen, die du dieser Tage auf Grund der „Corona-Maßnahmen“ am eigenen Leib erfahren hast, diese und viele weitere Missstände nun ein wenig konkreter verstehen. Wenn die Coronakrise einst überwunden sein wird und wieder normale Zeiten anbrechen, dann versuche dir zu vergegenwärtigen, dass dieses Normal eben nicht normal ist, sondern von Gott geschenkt.

Sei dankbar! Deo gratias!

( Erschienen in PM 150 1-2020, S. 14 – 16)

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