Pfadfindergesetz und Seligpreisungen

von P. Markus Christoph SJM

Die acht Spitzen unseres Pfadfinderkreuzes stehen bekanntlich für die acht Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5), bezüglich derer der Katechismus den Anspruch erhebt: „Die Seligpreisungen enthüllen den Sinn des menschlichen Daseins“ (KKK 1719). Weniger bekannt, aber durchaus nicht abwegig, ist der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Seligpreisungen und dem Pfadfindergesetz.

1. Selig, die arm sind im Geist… Der Pfadfinder ist einfach

Die erste Seligpreisung lobt mit der „Armut im Geist“ nicht die Dummen, sondern Menschen, die mit ihrem Herzen nicht am Reichtum hängen; Menschen, die Besitz loslassen können, weil sie wissen, dass materielle Güter uns letztlich nicht wirklich glücklich machen. Das Streben nach Besitz- und Gewinnmaximierung macht unser Herz unruhig und leer. Und darum lautet das 9. Pfadfindergesetz: „Der Pfadfinder ist sparsam und einfach.“ Er sucht sein wahres Glück nicht in irdischen Gütern.

2. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden… Der Pfadfinder lacht in Schwierigkeiten

Die zweite Seligpreisung will uns nicht lehren, man solle sich Trauer wünschen, um später getröstet zu werden. Vielmehr zeigt sie, dass derjenige, der von sich aus bereit ist, Schweres und Anstrengendes – d.h. Trauer – auf sich zu nehmen (z.B. bei der Guten Tat), gerade dadurch „Trost“ finden wird. Die anstrengendsten Stunden sind oft die erfüllendsten Augenblicke – wenn wir uns dabei um innere Heiterkeit bemühen. Genau darum geht es im 8. Artikel des Gesetzes. „Der Pfadfinder … lacht und singt in Schwierigkeiten.“ Er wird von Jesus seliggepriesen, wenn er Beschwerliches – Trauer – bereitwillig auf sich nimmt.

3. Selig die Sanftmütigen… Der Pfadfinder gehorcht aus freiem Willen

Sanftmut meint die Gelassenheit eines Menschen, der zwar seine eigene Überzeugung hat, sie aber nicht mit Gewalt durchsetzen muss (in der alten Einheitsübersetzung steht darum interpretierend „Selig die keine Gewalt anwenden“). Damit Menschen in Gemeinschaft zusammenleben können, ist Sanftmut nötig, nämlich die Fähigkeit, sich freiwillig einer legitimen Autorität unterzuordnen, ohne deswegen seine eigene Überzeugung preiszugeben. In diesem Sinn lautet der 7. Artikel unseres Gesetzes: „Der Pfadfinder gehorcht aus freiem Willen…“

4. Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit… Der Pfadfinder liebt Pflanzen und Tiere

Gerechtigkeit ist DIE Universaltugend: Wir sind zur Gerechtigkeit verpflichtet gegenüber Eltern, Lehrern, Freunden, Kollegen, Verwandten, Nachbarn… gegenüber allen Menschen. Papst Franziskus betont, dass die Pflicht zur Gerechtigkeit sogar noch weiter reicht und die ganze Schöpfung miteinschließt. Auch gegenüber Tieren und Pflanzen müssen wir „gerecht“ sein und ihnen geben, was ihnen zusteht. Freilich hat die Natur nicht „Rechte“ im eigentlichen Sinn. Aber sie folgt einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, die wir respektieren müssen, wenn wir die Natur – die der ganzen Menschheitsfamilie anvertraut ist – bewahren wollen. Darum ist der nachhaltige Umgang mit der Schöpfung tatsächlich eine Frage der Gerechtigkeit, nach der wir „hungern und dürsten“ sollen. Und darum sollen wir gemäß Artikel 6 des Pfadfindergesetzes Pflanzen und Tiere lieben.

5. Selig die Barmherzigen… Der Pfadfinder ist ritterlich / Die Pfadfinderin ist großherzig

Barmherzig ist, wer seinem Nächsten MEHR Gutes tut, als er eigentlich müsste. Barmherzig sind im Evangelium der Samariter und der Vater des verlorenen Sohns. Barmherzig ist auch der mittelalterliche Ritter, der für Arme und Schwache kämpft; barmherzig war die heilige Elisabeth, die in ihrer Großherzigkeit viel mehr den Armen gab, als sie ihnen hätte geben müssen. Diese Art von Barmherzigkeit verlangt Artikel 5 des Pfadfindergesetzes: Der Pfadfinder ist ritterlich, die Pfadfinderin ist großherzig.

6. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen… Der Pfadfinder ist Freund aller Menschen und Bruder aller Pfadfinder

Nur mit einer sauberen Brille sieht man gut. Nur mit einem reinen Herzen können wir Gott schauen, sei es im Gebet, sei es im lauteren Blick auf unsere Mitmenschen. „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Wir dürfen und können Jesus erkennen in unseren Nächsten; alles Gute und Schöne in ihnen stammt von Jesus. Das ist der eigentliche Grund, warum wir mit allen Menschen befreundet sein können und diejenigen, die uns besonders nahe stehen (z.B. Pfadfinder) sogar als Brüder bezeichnen: Jesus, unser Herr und Bruder, ist geheimnisvoll in ihnen gegenwärtig. Das reine Herz ist die Voraussetzung, dass wir als Pfadfinder Freund aller Menschen und Bruder aller Pfadfinder sein können (Artikel 4).

Auf den ersten Blick passt die fünfte Seligpreisung auch gut zum 10. Artikel des Pfadfindergesetzes: „Der Pfadfinder ist rein in Gedanken, Worten und Werken.“ Allerdings fehlt dort der Bezug zur Gottesschau, den die Seligpreisung ausdrücklich herstellt und der in 4. Artikel zum Ausdruck kommt.

7. Selig die Friedensstifter… Der Pfadfinder dient seinem Nächsten und begleitet ihn auf dem Weg zu Gott

„Friede“ ist mehr als nur „kein Krieg“. Eine zerstrittene Familie ist nicht in Frieden, selbst wenn es gerade zu keinen Handgreiflichkeiten kommt und alles ganz ruhig abläuft. Frieden bedeutet, dass alles in rechter Ordnung ist. Friede in einer Familie meint das rechte Miteinander von Kindern und Eltern, von Ehepartner zu Ehepartner. Der wichtigste Friede liegt im guten „Miteinander“ von Mensch und Gott. Das Herz des Menschen ist erst dann in Frieden, wenn es sich von Gott geliebt weiß und diese Beziehung (die auch eine Abhängigkeit meint) freudig bejaht. Andere Menschen auf dem Weg zu Gott zu begleiten, heißt darum vor allem, zum Friedensstifter zu werden: sie zum inneren Frieden des Herzens zu führen. Genau darum geht es im 3. Artikel des Pfadfindergesetzes.

8. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden… Der Pfadfinder ist treu

Treue bezeichnet die Verlässlichkeit eines Menschen gegenüber anderen Menschen, gegenüber Idealen, gegenüber Gott. Treue als Charaktereigenschaft ist vor allem dann notwendig, wenn äußere Widerstände auftreten und sich die Verlässlichkeit bewähren muss. Schwierige Situationen sind dann sogar wertvoll, weil sie uns Gelegenheit geben, unsere Treue gegenüber dem Nächsten bzw. Gott zu beweisen. Hier trifft sich die letzte Seligpreisung mit dem zweiten Artikel des Pfadfindergesetzes: „Der Pfadfinder ist treu…“

Fazit

Die Reihenfolge der acht Seligpreisungen entspricht genau der umgekehrten Ordnung der Artikel 9 bis 2 des Pfadfindergesetzes.

Und der 1. und 10. Artikel des Pfadfindergesetzes?

„Die Ehre des Pfadfinders besteht darin, Vertrauen zu verdienen.“ Der erste Artikel des Gesetzes klärt und definiert die Pfadfinderehre. Damit ist er Prinzip und Grundlage aller folgenden Artikel – ohne entsprechende Seligpreisung. Und der 10. Artikel des Gesetzes wurde – so sagt man – von BiPi, dem Erfinder des Pfadfindergesetzes, nachträglich angefügt, um die Wichtigkeit der Reinheit hervorzuheben. Inhaltlich ist die Reinheit aber schon in den vorausgegangenen Artikeln miteingeschlossen. Darum entspricht dem 10. Gesetz ebenfalls keine Seligpreisung.

Nachtrag

Niemand wird behaupten, Bipi habe das Pfadfindergesetz bewusst nach der Reihenfolge der Seligpreisungen geordnet. Ebenso wenig soll der Anspruch erhoben werden, die hier vorgelegte Erklärung der Seligpreisungen sei die einzige oder beste. Wie so oft bei den Worten Jesu, besitzen die Seligpreisungen eine vieldimensionale Tiefe, die verschiedene richtige (!) Deutungen zulässt. Gleichzeitig sollte aber klar geworden sein, dass eine Zuordnung von Pfadfindergesetz und Seligpreisung sehr einfach möglich ist und dabei eine verblüffende Stimmigkeit sichtbar wird. Als Pfadfinder haben wir allen Grund, stolz auf unser Gesetz zu sein, an dem wir immer wieder unser Leben ausrichten wollen.

(Erschienen in PM Nr. 139, 1/2017, S. 19-21)

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