Die Botschaft von Fatima: revolutionär und zugleich zeitlos
von Vikar Christian Stadtmüller
„Der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt und […] die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“[1] ist die Feier der heiligen Messe, so sagt es das Zweite Vatikanische Konzil. Alles kommt von der Eucharistie und alles mündet in ihr. Warum ist das so? Weil wir in der Eucharistie Gott begegnen dürfen, weil wir Zeugen sein dürfen, wenn die Grenzen von Zeit und Raum ihre Macht verlieren, wenn Himmel und Erde sich berühren. Jesus bringt sich durch den Dienst der Kirche in der heiligen Messe dem Vater als reinstes Opfer dar, damit wir leben können – leben in Ewigkeit.
Bei diesem Opfer des Herrn, in der entscheidenden Stunde der Menschheit, wendet sich Christus in seinem Sühneleiden, in seinen Todesschmerzen, denjenigen zu, die er auf Erden am meisten liebt. Seiner Mutter Maria und dem Lieblingsjünger Johannes. „Frau, siehe deinen Sohn! Siehe, deine Mutter!“[2] Er hatte sicher genug mit seinem Leid, mit seinen Schmerzen und seiner Todesangst zu tun und doch vertraut er die liebsten Menschen, die er hat, einander an. In diesem Moment „wird Maria vom Herrn nicht nur als Mutter des Johannes bezeichnet […], sondern [auch als Mutter] des ganzen Menschengeschlechtes. Denn das ganze Menschengeschlecht“ so lehrt uns Papst Paul VI. – „wurde von Johannes in seiner Person vertreten.“[3] Das ganze Menschengeschlecht meint auch die Menschen aller Zeiten.
Mit dem Konzilspapst Paul VI. dürfen wir aber die Frage stellen: „Wie hilft die Muttergottes […] allen Gliedern der Kirche, allen gutwollenden Menschen beim geistigen Wachstum?“[4]
Maria, so betonen es die Konzilsväter, hat nach ihrer Aufnahme in den Himmel, den (von ihrem sterbenden Sohn erhaltenen) Auftrag der Mutterschaft „nicht aufgegeben, sondern [sie] fährt durch ihre vielfältige Fürbitte fort, uns die Gaben des ewigen Heiles zu erwirken. In ihrer mütterlichen Liebe trägt sie Sorge für die Brüder ihres Sohnes, […] bis sie zur seligen Heimat gelangen.“[5] Maria „erfüllt“ also „auch weiterhin ihre von Gott gefügte mütterliche Aufgabe.“[6]
Sie setzt sich, wie eine gute Mutter für uns, für ihre Kinder ein. Oft sehr zurückhaltend, diskret, lautlos. Wie so manche gute Mutter Gutes für ihre Kinder oft im Verborgenen tut, ohne dass es vielleicht die Kinder bemerken.
Doch „Sorge und Hilfe der Mutter der Kirche erschöpfen sich nicht in der Fürbitte bei ihrem Sohn. Dem erlösten Menschen kommt [Maria] auch durch ihr Vorbild zur Hilfe. […] Worte belehren, Beispiele ziehen an. […] Die Worte der Eltern haben mehr Einfluss, wenn sie durch das Beispiel der Lebenshaltung bekräftigt werden.“[7] Maria ist den Kindern ein Vorbild im Zutrauen zu Gott. Ihre Heiligkeit entspringt nämlich keineswegs nur dem Walten der göttlichen Gnade, sondern ist auch ein Ergebnis ihres freien Wollens. Maria stellt sich Gott anheim, gibt dem Engel zur Antwort: „Siehe ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort!“[8] Sie gibt Beispiel und ist Vorbild. Denn „Fest war sie im Glauben. Prompt im Gehorchen. Sie war schlicht in ihrer Demut. Voller Freude war sie auf den Herrn hin bezogen. Tapfer und treu, glühend in der Liebe bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Ihre Haltung war so, dass sie sich selbst hinopferte. Mit allen Kräften ihrer Seele hing sie am Sohn, der am Kreuz starb, um der Menschheit ein neues Leben zu schenken.“[9]
Doch die Mutterschaft Mariens erschöpft sich weder in der Fürbitte, noch im Vorbild. Ja, „[…] die geistige Mutterschaft der Allerseligsten Jungfrau und Gottesgebärerin überschreitet alle Grenzen von Ort und Zeit und weitet sich aus in die ganze Kirchengeschichte, die Heilsgeschichte der Menschheit.“[10]
Maria mischt sich – salopp gesagt – immer wieder ein im Leben der Menschheit: Als die türkischen Truppen in großer Übermacht vor Wien standen und der Bestand des heiligen Reiches auf dem Spiel stand, war es Maria, die geholfen hat und der Papst führte das Fest Maria Namen ein. Als die christlichen Truppen bei der Seeschlacht von Lepanto über die Übermacht der Türken siegten und somit das christliche Abendland retteten, half das schier unaufhörliche Rosenkranzgebet der Christenheit und der Papst führte zum Dank das Fest Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz ein. Als der Papst selber aus der Gefangenschaft Napoleons frei kam, führte er das auf das Gebet zur Gottesmutter zurück und setzte das Fest der Schmerzen Mariens als Dank ein.[11]
Doch nicht nur die Päpste danken auf ihre Weise Maria für ihre Hilfe. Wie viele Votivtafeln mit „Maria hat geholfen“ weisen uns in unzähligen Wallfahrtsorten darauf hin, dass die Menschen Hilfe von der Gottesmutter erfahren haben? An Wallfahrtsorten, wo sich so oft Himmel und Erde berührten, wo Maria sich den Menschen zeigt, wo Maria erschien und auch heute erscheint.
In Lourdes bestätigt 1858 die Gottesmutter das vier Jahre zuvor verkündigte Dogma von ihrer Unbefleckten Empfängnis gegenüber einem kleinen Mädchen, Bernadette Soubirous.[12] Hier zeigt sie, auch allen Kritikern, dass die Kirche Recht hat mit dem, was sie durch den Papst lehrt.
In Fatima schließlich erscheint die Gottesmutter Maria den drei Seherkindern Francisco, Jacinta und Lucia. Auch ihnen zeigt sie sich als Mutter. Als diejenige, die tut, was eine gute Mutter ausmacht. Sie sorgt sich. Sie sorgt sich um das Heil der Menschen und sie weist den Kindern und mit ihnen den Christen auf der ganzen Welt den Weg auf, Frieden zu erreichen und Frieden zu erhalten. „Betet täglich den Rosenkranz, um den Frieden der Welt und um das Ende des Krieges zu erlangen!“[13] Sie lädt sie ein, nein, sie bittet die Kinder, an jedem dreizehnten des Monats zur Steineiche zu kommen. Sie ruft sie auf: „Opfert euch auf für die Sünder und sagt oft, besonders wenn ihr ein Opfer bringt: O Jesus, das tue ich aus Liebe zu dir, für die Bekehrung der Sünder und zur Sühne für die Sünden gegen das Unbefleckte Herz Mariens.“[14] Bei ihrer letzten Erscheinung – im Oktober dieses Jahres vor 100 Jahren – offenbarte sich die weiß gekleidete Frau den Kindern als Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz und forderte sie auf auch weiterhin täglich den Rosenkranz zu beten. Für den Frieden der Welt, für die Bekehrung aller, die sich von Christus abgewendet haben.
Maria sieht die Not der Menschen. Den Krieg, die Verspottung Gottes, die Sakrilegien, die Sünden gegen ihr unbeflecktes Herz und vor allem den Frevel gegenüber dem Altarsakrament. Maria weiß, dass diese Vergehen die Menschen um ihr ewiges Heil bringen, dass diese Sünden Konsequenzen über das Leben auf Erden hinaus haben werden, ja hinein in die Ewigkeit. In die Hölle. Deshalb fordert sie wie eine gute Mutter in einer großen Familie die Kinder auf, füreinander zu sorgen. Niemand soll nur an sich denken, jeder soll sich auch für den anderen mitverantwortlich fühlen.
Die Botschaft von Fatima ist revolutionär und zugleich zeitlos. Maria nimmt schon das vorweg, was das Zweite Vatikanische Konzil den Gläubigen in Erinnerung ruft: Die Würde des Priestertums, die allen Getauften, ob Laie oder Priester, geschenkt wurde. Das Priestertum, das wir vom göttlichen Erlöser, von Christus erhalten haben, schenkt uns Anteil an seinem Opferdienst für die Erlösung der Menschheit. So sollen und vermögen wir „geistige Opfer“[15], ja uns selbst „als lebendige, heilige und Gott wohlgefällige Opfergabe“[16] darzubringen. Ja, wir sind in der Lage für andere zu opfern, für die Vergehen unserer Mitmenschen, Gott Genugtuung, Sühne zu leisten. Wir können andere durch unser Opfer und Gebet helfen, ja sogar retten.[17] „Führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen!“
Vielen Gläubigen ist es besonders im Jubiläumsjahr 2017 ein großes Anliegen, diese Botschaft der Gottesmutter den Menschen (neu) bekannt zu machen. Denn Fatima ist nicht überholt, wenngleich die Erscheinungen Unserer Lieben Frau schon genau hundert Jahre zurückliegen. Aber ihre Botschaft bleibt aktuell. Leider. Denn so lange Menschen Krieg gegeneinander führen, solange Gott gefrevelt wird, solange der Herr in der Eucharistie verraten und bekämpft wird, solange das Unbefleckte Herz Mariens beleidigt und geschmäht wird, solange bleibt Fatima aktuell.
Maria braucht uns und wir brauchen Maria. Bei all dem negativen, was Maria bewegt hat sich der Welt in Fatima zu offenbaren, bleibt doch der trostvolle Zuspruch des Himmels: Wir können durch unser Gebet, durch unser Opfer und durch Akte der Sühne anderen helfen! Wir müssen nicht tatenlos zusehen, wenn andere sich ins Verderben stürzen, wir dürfen uns Gott anbieten für das Heil anderer, ja vielleicht auch derer, die uns lieb sind, die aber nicht den Weg des wahren Glaubens gefunden haben oder weitergehen. Ja, ist es nicht tröstend, dass in der Haltung, die Maria uns in Fatima empfiehlt, jedes körperliche und seelische Leid in unserem Leben einen Sinn hat, nicht nutzlos, sondern heilbringend sein kann?
Hier geht Fatima einen Schritt weiter als andere Erscheinungen, als andere Offenbarungen. Es geht in meiner marianischen Frömmigkeit nicht nur um mich, nicht nur darum, dass mir geholfen wird, dass ich meine Sorgen bei Maria lassen kann, sondern es geht vor allem darum, mich als Christ zu behaupten und das zu tun, was einen Christen ausmacht: Für andere da zu sein, nicht nur an mich zu denken, mein Leben von Christus in den Dienst nehmen zu lassen.
Maria ist eine gute Mutter, die uns auf den richtigen Weg führt, die uns die große Dimension des Christseins aufzeigt, deutlicher als jeder große theologische Text eines Konzils, deutlich und einfach, wie eine Mutter eben mit ihren Kindern spricht. So, dass es die Kinder verstehen.
Es wäre falsch, sich einreden zu lassen, dass Marienverehrung heute stünde gegen das Zweite Vatikanische Konzil oder gar gegen die Kirche. Der selige Papst Paul VI. und die Bischöfe selbst haben beim Konzil die „die ganze Schöpfung überragende Muttergottes zur Mutter der Kirche“ proklamiert. „Wir haben sie als die Mutter aller an Christus Glaubenden herausgestellt!“ schrieb Paul VI. anlässlich des 50. Jahrestages der Erscheinungen von Fatima. Maria ist die Mutter der Kirche![18]
Wir haben Überlegungen angestellt, wie Maria ihr Muttersein uns gegenüber wahrnimmt, wie sie sich als Mutter zeigt in ihrer Sorge um uns, ihre Kinder. Wir dürfen uns aber auch die Frage stellen lassen, wo deutlich wird, dass wir mit dem Wort des Herrn ernst machen. „Siehe, deine Mutter.“ Die Mutter ist in einer guten Familie kein Außenseiter, sie spielt keine Nebenrolle im Leben der Familienangehörigen, nein, die Mutter ist vielmehr das Herz einer Familie, der Mittelpunkt, ohne den oft die Familien arm und kalt wären.
Wenn wir das Leben und Tun der Gottesmutter Maria betrachten, vernachlässigen wir nicht Christus, sondern wir vollziehen vielmehr, was er der liebenden Kirche vom Kreuz herab auftrug. Maria hat ihren Platz in der Kirche, in unserem Glauben, ja in unserem Leben. Das Gebet des Rosenkranzes, das sie uns selbst aufträgt, die Lauretanische Litanei, der Engel des Herrn und die Andachten zu ihrem Herzen und ihren Schmerzen sind keine speziell-privaten oder besonderen Frömmigkeitsformen, sondern Gebete der Kirche! Wer Maria verehrt als Mutter des Herrn, befindet sich nicht nur auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils, sondern inmitten des Glaubens der Kirche von Anfang an. Maria war es, um die sich die Apostel in der Geburtsstunde der Kirche – an Pfingsten – versammelt hatten.
Heute noch dürfen wir wie damals die Apostel spüren, wer zu Maria gehört, wer Maria als Mutter umringt, der weiß, was es heißt, nicht allein zu sein. Bei Gott zu sein, zur großen Familie der Heiligen Kirche Gottes zu gehören. Wer glaubt, ist nie allein.
In jeder Heiligen Messe wird unmittelbar nach oder auch vor der Wandlung der Name der Gottesmutter genannt. Sie ist untrennbar mit dem eucharistischen Geschehen verbunden. Bei jeder heiligen Messe und auch bei der eucharistischen Anbetung steht sie mit der Kirche unter dem Kreuz ihres Sohnes. Und wie damals auf Golgatha wendet sich Jesus denen zu, die er liebt, er blickt zu uns, der Kirche, und ruft seiner Mutter zu: „Frau, siehe deine Kinder“ und uns ruft er eindringlich zu „Sehet da, eure Mutter!“
(Erschienen in PM 1/2017, S. 5-6)
[1] SC 10, vgl. auch LG 11
[2] Joh 19,26f
[3] Paul VI., Apostolisches Schreiben Signum Magnum, 13. Mai 1967, 6
[4] Signum Magnum, 7
[5] LG 62
[6] Ebda.
[7] Signum Magnum, 8
[8] Lk 1,38
[9] Signum Magnum, 12
[10] Signum Magnum, 22
[11] Vgl. Die Feier der heiligen Messe, Messbuch, 1975
[12] Vgl. Handbuch der Marienkunde, 1997, Bd. 2, 40
[13] Schwester Lucia spricht über Fatima, 20048, 187
[14] Ebda.
[15] LG 10
[16] Ebda.
[17] Vgl. Pius XII., Enzyklika Mystici Corporis, 29. Juni 1943: „Es ist ein wahrhaft schaudererregendes Geheimnis, das man niemals genug betrachten kann: dass nämlich das Heil vieler abhängig ist von den Gebeten und freiwilligen Bußübungen der Glieder des geheimnisvollen Leibes Jesu Christi, die sie zu diesem Zwecke auf sich nehmen […].“
[18] LG 53
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