Leben in Gottes Muße

von P. Markus Christoph

Von der Decke des Rittersaals im Pfadfinderheim Rixfeld baumelt an einer Schnur eine Tasse und pendelt zwischen den Begriffen „Arbeit“ und „Muße“, die Pater Tobias auf ein Flipchart geschrie­ben hat. Arbeit und Muße gehören, so erklärt er, zum Leben des Menschen. Arbeit – das ist alles, womit wir bestimmte Zwecke erreichen: wir pflanzen Kartoffeln, um zu essen; wir fahren Auto, um nach Berlin zu kommen; wir gehen joggen, um fit zu blei­ben. Kurz: Wir arbeiten, um irgendeinen Nutzen zu gewinnen. Niemand schwitzt freiwillig auf dem Acker, wollte er nicht es­sen oder Kartoffeln verkaufen, um Geld zu bekommen. Niemand würde sich ins Auto setzen, wollte er nicht an einen bestimmten Ort fahren – außer man ist 20 Jahre alt, männlich und das Auto ein Porsche; dann wäre Autofahren selber schon sinnvoll, auch ohne weiteren Nutzen; aber dann wäre Autofahren auch keine Arbeit mehr, sondern… Womit wir beim zweiten Begriff wären. Muße sind Tätigkeiten, die selbst dann sinnvoll bleiben, wenn sie keinen weiteren Nutzen bringen: Gute Musik hören, mit Freun­den zusammen sein, einen Sonnenuntergang bestaunen, Gott Zeit schenken… und für manche Leute auch Porschefahren. Muße be­reichert unser Leben, macht es wertvoll, selbst dann, wenn sie uns keinen weiteren Vorteil bringt. Sie ist in sich selber sinnvoll.

Die Tasse an der Decke pendelt zwischen Arbeit und Muße, denn, so erklärt P. Tobias, beide Bereiche gehören zum Leben des Men­schen. Was einfach klingt, kann in der Praxis schnell schwierig werden. Gelingt uns ein gutes Gleichgewicht zwischen arbeiten, die Welt gestalten, effektiv sein, und gleichzeitig Zeit haben für Dinge, die gut und sinnvoll sind, ohne irgendeinen weiteren Nutzen? Arbeit und Effektivität sind gesellschaftlich anerkannte Werte. Erfolg in der Arbeit gilt als wichtig(st)es Kriterium bei der Einschätzung von Menschen. Der Bereich von „nutzloser“ Muße, also von Tätigkeiten, die nichts „bringen“, sondern einfach nur schön sind, gerät da schnell unter Rechtfertigungsdruck. Darf man einfach mal ein gutes Buch lesen, auch wenn es eigentlich nichts „bringt“? Wenn man die Lektüre weder fürs Studium noch für die Arbeit braucht und es auch keine Do-it-yourself-Anleitung für Gartenpflege enthält? Das Pendel schlägt heute einseitig in Richtung „Arbeit“ aus. Umso wichtiger, ganz bewusst auf Muße im eigenen Leben zu achten.


Was als Muße gilt, ist nicht für alle Menschen gleich. Der Porsche macht klar, dass sich manche Dinge „musisch“ tun lassen, die für andere echte Arbeit wären. Orgelspielen ist in der Regel eine musische Angelegenheit. Für den Berufsorganisten kann sie schnell zur Arbeit werden; er spielt Orgel, um Geld zu verdienen. Nur deswegen. Man kann in Muße mit Freunden zusammensitzen, aber auch um Geschäftspartner bei Laune zu halten – womit die „Mußestunde“ zur Arbeitsstunde geworden ist. Auch umgekehrt gilt: Was vordergründig Arbeit ist, kann Muße werden, z.B. wenn ein begeisterter Amateurkünstler das Bild der Pietà, das vor seinem geistigen Auge steht, mit Stechbeil und Schnitzmesser aus dem Holz herausarbeitet – mehr recht als schlecht – und dabei besonders erfüllte Stunden erlebt. Sein Tun hat eigentlich einen Zweck, nämlich die Nachbildung seiner Vision der Pietà. Aber der Erfolg seines Schnitzens besteht nicht in der Perfektion des Ergebnisses. Selbst wenn die Statue am Ende unverkäuflich bleibt, waren für ihn die Stunden in der Werkstatt sinnvoll. Muße. Ähnlich der Skitourengänger, der 100 Höhenmeter unter dem Gipfel wegen Lawinengefahr umkehrt. Die „Arbeit“ des Aufstiegs brach­te nicht den gewünschten Erfolg, trotzdem war die Tour sinnvoll, Muße pur.

Wenn diese Beobachtung stimmt, dann können Dinge, die ei­gentlich Arbeit sind, durch besondere Umstände zur Muße wer­den. Der Hobbykünstler beweist es. Besonders deutlich wird das Phänomen im Fall von Freundschaft: Arbeit, die man für einen Freund „leistet“, erhält ihren eigentlichen Wert nicht aus dem Nutzen der Arbeit (freilich auch), sondern aus der Tatsache, etwas für den Freund zu tun. Oder genauer: etwas für ihn tun zu wollen. Es ist schön, wenn man den abgerissenen Knopf am Hemd seines Freundes mit Erfolg annäht. Aber selbst wenn der Versuch miss­lingt, war die Sache nicht umsonst, sondern ein Zeichen der Ver­bundenheit. Und damit sinnvoll, unabhängig vom Erfolg. Wer für einen kranken Freund mit viel Mühe Bärlauchblätter sammelt, die der Patient letzten Endes wegen Allergie gar nicht essen darf – war die Zeit des Für-den-Freund-Blätterpflückens vergeudet? Nein, denn das Sammeln war Ausdruck der Freundschaft; es war sinnvoll, auch ohne äußeren Erfolg. Genauso hatten wir Muße definiert: Dinge, die in sich sinnvoll sind, unabhängig von ihrem weiteren Nutzen.

Am Morgen des Vortrags von P. Tobias wurde in der Liturgie das vierte Kapitel aus dem Hebräerbrief gelesen. Dort heißt es: „Darum lasst uns ernsthaft besorgt sein, dass keiner von euch zu­rückbleibt, solange die Verheißung, in seine Ruhe zu kommen, noch gilt. (…) Denn wir, die wir gläubig geworden sind, kommen in seine Ruhe. (…) Vom siebten Tag heißt es an einer Stelle: Und Gott ruhte am siebten Tag von all seinen Werken. (…) Also ver­bleibt dem Volk Gottes noch eine Sabbatruhe. Denn wer in seine Ruhe eingegangen ist, der ruht auch selbst von seinen Werken aus, wie Gott von den seinigen. Bemühen wir uns also, in jene Ruhe einzugehen!“ (Hebr 4,1-11)

Man kann diese Sätze im Hinblick auf die Zukunft lesen; im Him­mel werden wir von allen Mühen ausruhen, dort werden wir in Muße leben. Paulus formuliert allerdings nirgendwo in Futur, sondern in Präsens (eiserchometha). Als Gläubige sind wir beru­fen, bereits jetzt in der Ruhe des Herrn zu leben, schon heute von unseren Werken auszuruhen. In Vers 7 betont er ausdrücklich das „Heute“ dieser Berufung. Wie stellt sich Paulus das Leben in der Ruhe des Herrn vor? Ab jetzt einfach nichts mehr tun?

Ein Schlüssel zum Verständnis der paulinischen „Ruhe im Herrn“ könnte die „Muße der Freundschaft“ sein. Was für den Freund geschieht, ist befreit vom Druck des Erfolgs und der Pflicht zum Nutzen. Oder genauer: Es kann dieses Wesensmerkmal der Ar­beit überschreiten. Dies geschieht nicht automatisch, aber es ist möglich, nämlich wenn man sich bewusst macht, dass in einer Freundschaft nicht der Nutzen allein entscheidet, sondern die Verbundenheit mit dem Freund, die durch die (vielleicht erfolg­lose) Arbeit zum Ausdruck kommt. Wenn unsere Beziehung zu Gott eine Freundschaft ist – „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde“ (Joh 15,15) – dann können wir alle Arbeiten des Alltags als Ausdruck unserer Freundschaft zu Jesus vollziehen; dann hängt der Erfolg unseres Tuns nicht mehr primär vom Nut­zen der Arbeit selber ab, sondern vom inneren Bewusstsein, aus Freundschaft für den Herrn gehandelt zu haben.

Genau das schreibt Paulus immer wieder in seinen Briefen: „Tut eure Arbeit gern, als wäre sie für den Herrn und nicht für Men­schen; ihr wisst, dass ihr vom Herrn das Erbe als Lohn empfan­gen werdet.“ (Kol 3,23f) „Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut: Tut alles zur Verherrlichung Gottes!“ (1 Kor 10,31) „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir ster­ben, wir gehören dem Herrn.“ (Röm 14,8) „Sorgt euch um nichts!“ (Phil 4,6) „Freut euch zu jeder Zeit! (…) Dankt für alles.“ (1 Thes 6,16.18) Als Christen können wir al­les für den Herrn tun, wie ein Freund für den Freund, wie ein Kind für den Vater. Der Wert des Handelns eines Kindes liegt nicht im äußeren Nutzen, sondern in der Tatsache, dass sich das Kind aus Liebe zu den Eltern bemüht hat. Damit kann jede Arbeit zu „Muße im Herrn“ werden. Die Ruhe, von der Paulus im Hebräerbrief schreibt, meint dann nicht ein äußeres Untätig-Sein, kein Heraustreten aus den Alltagspflichten, sondern die Gelassenheit des Christen, der weiß, dass sein ganzes Tun in den Augen Gottes sinnvoll und wertvoll ist, unabhängig vom äußeren Erfolg. Ist das nicht genau die katholi­sche Lehre von Gnade und Werken? Ja, es braucht auch Werke. Aber ihr „Nutzen“ liegt nicht darin, dass wir uns durch sie den Himmel „verdienen“, sondern sie sind Ausdruck unserer Freundschaft zu Gott (vgl. Eph 2,10).

Die Tasse an der Decke baumelt immer noch zwischen Arbeit und Muße. Man darf beides nicht gegeneinander ausspie­len, so P. Tobias. Arbeit und Muße bedin­gen sich gegenseitig, gehören zusammen. Die Muße der Freundschaft zeigt, wie für Christen beide Bereiche sogar zusammen­fallen können. Wenn die moderne Welt versucht ist, Arbeit absolut zu setzen, so zeigt uns der Glaube, wie die Freundschaft mit Jesus der Arbeit einen neuen Sinn ge­ben kann, der sie vom Erfolgsdruck unab­hängig macht. Der Glaube macht es mög­lich, alltägliche Arbeit in christliche Muße umzuwandeln. Schon das Alte Testament erwähnt, wie Jakob für den Brautpreis seiner geliebten Rahel zwar hart gear­beitet hat, er aber die Zeit gleichzeitig als beglückend empfand: „Jakob diente also um Rahel sieben Jahre. Weil er sie lieb­te, kamen sie ihm wie wenige Tage vor.“ (Gen 29,20) Genauso haben wir in den großen Heiligen, angefangen vom rastlo­sen Mystiker Paulus bis hin zur missiona­risch-kontemplativen Mutter Teresa, ein­drucksvolle Vorbilder dieser christlichen Grundhaltung von arbeitsamer Muße, von mußevoller Arbeit, von einem Leben in Gottes Muße.

( Erschienen in PM 149 4-2019, S. 7-8)

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