Gedanken aus dem Buch von Kardinal Sarah

Kraft der Stille

von Hedwig Hageböck

Weihnachten steht vor der Tür, die Lichter brennen, Straßen und Geschäfte sind überfüllt, wir backen und putzen und hetzen von einer Weihnachtsfeier zur nächsten… Leblose Bäume und Sträucher, Schneeflocken fallen, die Nächte werden länger. Während die Menschen im Stress sind, hüllt sich die Natur in Schweigen. Sie spiegelt das große Geheimnis wider, welches sich im Stall von Bethlehem ereignet hat: Ein Kind kam in aller Demut und Bescheidenheit zur Welt, um uns die Erlösung zu bringen. Doch Gott genügt dieses Ereignis vor 2000 Jahren nicht. Er möchte auch in der Stille unseres Herzens geboren werden und dort Wohnung finden; täglich neu und vielleicht dieses Jahr an Weihnachten ganz besonders.
Im vergangenen Jahr schrieb Robert Kardinal Sarah ein großartiges Buch über die „Kraft der Stille“, welches auf viele Menschen eine so tiefe Wirkung wie Exerzitien hat. Einige seiner Gedanken sollen hier wiedergegeben werden, da sie uns helfen können, den Wert der Stille und letztendlich auch Gott in uns immer tiefer zu erkennen.

Christ sein – still sein

Kardinal Sarah stellt uns die grundlegende Frage, warum Ruhe und innere Einkehr für jeden Christen ratsam sind. „Die Stille ist wichtiger als jedes andere menschliche Werk. Denn in ihr drückt sich Gott ausI[…]. Die kontemplative Stille ist die Stille mit Gott. Diese Stille heißt, sich an Gott zu klammern, sich vor Ihn zu stellen, sich Ihm zu zeigen, sich Ihm hinzugeben, vor Ihm ganz klein zu werden, Ihn anzubeten, Ihn zu lieben, Ihm zu lauschen, auf Ihn zu hören, Ihn zu verstehen und in Ihm zu ruhen. Das ist die Stille der Ewigkeit: die Vereinigung der Seele mit Gott […].“IIJa, Gott verlangt gewissermaßen die Stille von uns, „damit Er sich uns besser mitteilen kannIII[…]Der Vater wartet auf Seine Kinder in ihren eigenen Herzen.“IVUm Gott vernehmen zu können, müssen wir also in uns selber einkehren. Und dies wird nicht immer einfach sein, denn in unserem Inneren begegnen wir womöglich unserer eigenen Erbärmlichkeit. Zugleich werden wir Gott finden, was uns Trost bringt: „Ein Christ kann die Stille nicht fürchten, da er nie alleine ist. Er lebt mit Gott. Er lebt in Gott. Er lebt für Gott. In der Stille schenkt Gott mir Seine Augen, um Ihn besser betrachten zu können.“VStille, Einkehr und Zuhören sind die Voraussetzung für eine intime Beziehung zum Herrn. „Die Stille befähigt uns, eine dauerhafte Liebesbeziehung zu Gott aufzubauenVI[…] Welches ist die Stille, die Gott hören möchte? Welche Stimme und welche Musik sind es, die Gott gefallen? Es ist die schweigende Liebe, die nichts sagt und Ihn walten lässt. Sie gleicht der Opfergabe und dem Weihrauch, der mit den Gebeten der Heiligen zu Gott emporsteigt (vgl.Offb 8,1–4) […].“VI

Von der äußeren zur inneren Stille

Aber „wie können wir in unserer hochtechnisierten und geschäftigen Welt von heute Stille finden? Der Lärm macht uns müde und wir haben das Gefühl, dass die Stille eine unerreichbare Oase geworden ist […]“VIII Der Präfekt der Liturgiekongregation unterscheidet die innere von der äußeren Stille, wobei letztere eine Voraussetzung für die erste ist. Nicht nur unser Mund soll ruhig werden, sondern ebenso unsere Augen, unsere Ohren, das Herz, das Gedächtnis, alle Leidenschaften. „Das Schweigen des Blicks bedeutet, die Augen schließen zu können, um Gott in unserem eigenen tiefsten Inneren zu betrachten. Die Bilder sind Drogen, denen wir uns nicht mehr entziehen können, denn sie sind immer und überall gegenwärtig. Unsere Augen sind krank und müde und können sich nicht mehr schließen. Auch unsere Ohren müssen wir zuhalten, denn laute Bilder überfallen und verletzen unser Gehör, unseren Verstand und unsere Vorstellungskraft.IX[…] ‚Stille des Herzens‘ heißt, Stück für Stück unsere erbärmlichen menschlichen Gefühle zum Schweigen zu bringen, um fähig zu werden, dieselben Gefühle wie Jesus zu haben.X[…] Die innere Stille ist das Ende aller Vorurteile, Leidenschaften und Begierden. Wenn wir die innere Stille erlangt haben, können wir sie mit uns in die Welt nehmen und überall beten.XI[…] Wenn unser ‚inneres Handy‘ immer besetzt ist, weil wir mit anderen Geschöpfen ‚sprechen‘, wie kann uns dann der Schöpfer erreichen, wie kann er uns ‚anrufen‘? Wir müssen unseren Verstand von seiner Neugierde reinigen und unseren Willen von seinen Plänen [bestimmen lassen], um uns vollkommen den Gnaden des Lichts und der Kraft zu öffnen, die Gott uns im Übermaß schenken will […]“XII

Von Maria lernen

„Wenn der Mensch die Stille tötet, tötet er Gott. Wer wird aber dem Menschen helfen, zu schweigen? Ständig läutet sein Handy; seine Finger und sein Geist sind die ganze Zeit damit beschäftigt, Nachrichten zu verschicken […]“XIIIEs gibt eine Person, die uns helfen kann, zu schweigen, die uns Vorbild und Lehrmeisterin sein will, denn sie selbst lernte in der Schule ihres göttlichen Sohnes. „Das ganze Leben der Mutter Jesu ist in Schweigen getaucht […] Im Grunde ist Maria so schweigsam, dass die Evangelisten nur wenig von der Muttergottes sprechen. Sie ist gänzlich in die Kontemplation, in die Anbetung und in das Gebet versunken. Sie verbirgt sich in ihrem Sohn, sie ist nur für ihren Sohn da. In ihrem Sohn verschwindet sie […] Die Haltung Mariens ist das Hören. Sie ist ganz auf das Wort ihres Sohnes ausgerichtet. Sie ist Zustimmung und Gehorsam. Maria spricht nicht. Sie will sich einfach Gott unterordnen, wie ein vertrauendes Kind. Ihr Fiat kommt von ganzem und [aus] fröhlichem Herzen. Sie wartet darauf, den Willen Gottes durch Jesus zu empfangen […]“XIV

Gottes Schweigen

Gott selbst ist ein schweigender Gott. Auf der einen Seite offenbart sich dadurch Seine unendlich große Demut und Selbsterniedrigung. „Die Stille der Krippe, die Stille von Nazareth, die Stille des Kreuzes, die Stille des versiegelten Grabes – alles ist nur eine einzige Stille. Jesu verschiedene Arten der Stille sind die Stille der Armut, die Stille der Demut, die Stille der Selbstverleugnung und die Stille der Erniedrigung; es ist der Abgrund […] seiner Entäußerung (vgl. Phil 2,7).XV[…] In Seiner Menschwerdung nimmt Christus die menschlichen Grenzen auf sich. Durch Gottes Stille begegnen wir einer absoluten Liebe. Und diese große Stille drückt auch die Freiheit aus, die Gott dem Menschen ließ. Gottes einzige Macht ist, schweigend zu lieben. Er ist keiner Gewalt fähig. Denn Gott ist die Liebe und die Liebe will nicht zwingen, Gewalt anwenden und unterdrücken, um zur Gegenliebe zu nötigen […]“XVIAuf der anderen Seite werfen wir Gott oft Sein Schweigen vor. Warum lässt Er all das Elend zu und scheint uns dann in unserem Leid alleine zu lassen? Liebevoll und konkret geht Kardinal Sarah auch auf diese große Frage ein. „Auf den ersten Blick könnten wir meinen, Gott lasse zu, dass das Leid die Menschen zerstört. Doch wenn Gott schweigt, übersieht Er nicht anteilnahmslos unser Leid, das die Erde zerreißt und entstellt. Wenn wir uns bemühen, mit Gott in die Stille zu gehen, werden wir Seine Gegenwart und Seine Liebe erfahren.“XVII Wir müssen also gemeinsam mit Gott still werden, um zu erkennen, dass Er uns im Leid nahe ist und beisteht. „Der geprüfte Mensch, der sich der göttlichen Güte anvertraut, beweist einen großen Glauben an Gott. Er zeigt stillen Mut und verliert sich in inbrünstigem Gebet, während er auf die Antwort des Allmächtigen wartet. Ich weiß, dass die Kraft des Gebetes stärker ist als der Donner und milder als die Brise am Morgen. Ich weiß, dass die Blitze des Gebetes in der Lage sind, das Universum in seinen Grundfesten zu erschüttern, Berge zu versetzen, mein ganzes Sein und die Welt zu Gott zu erheben, um mich in Ihm zu verlieren.XVIII […] Eine Sache ist, gegen Gott zu rebellieren, weil Er in unserem Leid geschwiegen hat. Eine andere ist, Ihm in Stille unser Leid anzuvertrauen, es Ihm aufzuopfern, damit Er es zu einem Heilswerkzeug umwandle, indem wir unser Leid mit Christi Leid vereinen.“XIXWir müssen unser ganzes Leiden Christus hinhalten, in der gläubigen Gewissheit, dass am Ende die Liebe siegen wird und unser Leiden nicht umsonst gewesen ist. Es gibt kein Leben ohne Leiden, aber im Glauben erfahren wir trotz unseres Leidens in Christus das wahre Glück. Das Leiden ist geradezu eine Bedingung dafür, dass wir es [das wahre Glück] erfahren können. Sich Christus ganz zur Verfügung zu stellen, wodurch wir Ihm wahrhaft nahe kommen, heißt nämlich gerade auch das Leiden auf sich zu nehmen und so die Welt im Inneren, in der Stille „umzuleiden“XX. Leiden in Christus ist tiefstes Gebet.

Demut der Stille

Zuletzt können wir uns fragen, welche Tugend Sarah mit seinem Buch stärken möchte. Nicolas Diat, der Co-Autor von „Kraft der Stille“ ist sich sicher: die Demut. Der Kardinal schreibt also: „In der Stille vor Gott werden wir sanftmütig und von Herzen demütig. Gottes Sanftmut und Demut durchdringen uns und wir treten in eine wahre Zwiesprache mit Ihm. Die Demut ist Bedingung und Folge der Stille. Für die Stille sind Sanftmut und Demut notwendig und zugleich macht sie uns für diese zwei Tugenden empfänglich. Das demütigste, sanftmütigste und stillste aller Wesen ist Gott. Der einzige Weg, um in das große Geheimnis Gottes einzutreten, ist die Stille.“XXI

Sarah geht es nicht darum, sich ein paar Minuten am Tag in die Stille zurückzuziehen. Wir sollen komplett in die Stille „eintreten“, selbst zur Stille werden. Das klingt nach einem Ziel, das allenfalls kontemplative Ordensleute erreichen können. Aber nach Ansicht des Kardinals können sich alle Menschen eine „Klausur“ einrichten: „Wie jedes Kloster seine Klausur besitzt, so ist es auch für uns notwendig, die vertraute Beziehung zu Gott im Heiligtum unseres Zimmers zu leben und in Gebet und Stille den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen.“XXII Denn „alle Menschen [sind] zur Kontemplation, zur vollkommenen Liebe und zur Heiligkeit berufen […] Es liegt an jedem Einzelnen, den Lärm und das Gedränge beiseitezuschieben und sich dem stillen Gott zur Verfügung zu stellen, der in der tiefen Wüste unseres Herzens auf uns wartet […]“XXIII Eine wunderbare Berufung und ein hohes Ziel, das uns aber nicht überfordert. Es ist der stille Ruf Gottes an uns, wahrhaft Mensch, wahrhaft wir selbst zu werden. Vielleicht können wir jetzt im Advent, in dem wir die Menschwerdung Gottes erwarten, dieser Berufung mit Seiner Hilfe ein Stück weit näher kommen.

Buchtipp
Robert Kardinal Sarah mit Nicolas Diat: Kraft der Stille – Gegen eine Diktatur des Lärms. Vorwort von Papst em. Benedikt XVI. Kißlegg: fe-Medienverlag, 2017.

i Robert Kardinal Sarah mit Nicolas Diat: Kraft der Stille – Gegen eine Diktatur des Lärms, Kißlegg, fe-Medienverlag, 2. Auflage 2017
S. 71 / ii S. 72 / iii S. 155 / iv S. 32 / v S. 294 / vi S. 302 / vii S. 76 / viii S. 44 / ix S. 58 / x S. 59f. / xi S. 43 / xii S. 184f. / xiii S. 75 / xiv S. 147-150 /
xv S. 132 / xvi S. 78 / xvii S. 118 / xviii S. 224 / xix S. 213 / xx Ratzinger, Eschatologie / xxi S. 64 / xxii S. 93 / xxiii S. 87

(Erschienen in PM 141 3-2017, S. 13-15)

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