Ein Roverpfadfinder, der nicht alles gegeben hat, hat nichst gegeben (Teil 2)

Text der Predigt Kardinal Sarahs im Rahmen der Vézelay-Wallfahrt der Roverpfadfinder der Scouts d’Europe

Teil 2

Übersetzt von Andreas Müller

Das heutige Evangelium (Mt 25, 31-46) ist ein Aufruf zur völligen, unwiederbringlichen Selbsthingabe, deren Triebfeder die tägliche Gute Tat ist. Die Armen, Behinderten, Lahmen und Blinden einzuladen und zu bedienen heißt, wie der vierte Artikel des Pfadindergesetzes sagt, ‘Freund aller Menschen’ zu sein, oder wie es seinerseits das Zeremoniell des Roveraufbruchs ausdrückt: „Indem du den Weg betrittst, erklärst du dich im Voraus damit einverstanden, dich an jeden zu verschenken, der kommt. Du gehörst nicht mehr dir selbst, sondern den anderen ». Der Jesuitenpater Paul Doncœur, der als der zweite Begründer der Roverstufe nach Pater Sevin gilt, sagte dazu : „Wenn wir unsere Uniform ablegen, muss ein gewisser Stil bleiben, eine gewisse Lebensweise – arm, einfach und froh –, die Freude an frischer Luft und Anstrengung, die Hölichkeit, und vor allem der Geist des Dienens“. Dieser geht bis zur Ganzhingabe, denn der dritte Artikel eures Pfadindergesetzes besagt: „Der Pfadinder dient seinem Nächsten und begleitet ihn auf dem Weg zu Gott“. Ja, im heutigen Evangelium verlangt Jesus von euch, an den Tisch eures Lebens alle einzuladen, denen ihr begegnet, und nicht nur eure Freunde oder ‘reiche Nachbarn’. Hat euch das nicht auch Papst Franziskus im letzten Sommer in Krakau bei der Vigil des Weltjugendtags gesagt? „Liebe Jugendliche » sagte er, « verlasst das Sofa, das euch Stunden der Ruhe garantiert, die ihr in der Welt der Videospiele und vor dem Computer verbringt… ohne es zu merken, schlaft ihr ein, während andere – vielleicht aufgewecktere Menschen, aber nicht die besten – für euch über die Zukunft entscheiden. …

Die Zeit, die wir heute erleben, braucht keine Sofa-Jugendlichen, sondern Jugendliche mit Schuhen, oder – noch besser – mit Bergschuhen. Wir sind nicht auf die Welt gekommen, um dahinzuvegetieren, sondern um unsere Spuren zu hinterlassen“. Liebe Roverfreunde, diese Bergschuhe sind die Schuhe, die ihr jeden Sommer auf dem Jakobsweg tragt…

Auf Fahrt und im Rundenleben lernt ihr das Öffnen des Herzens, das der gegabelte Stock symbolisiert, der dem neuen Roverpfadinder mit den folgenden wunderbaren Worten übergeben wird: „Nimm diesen gegabelten Stock, Bild der Treue zum empfangenen Erbe und der Offenheit des Herzens, die Merkmale des Katholischen Pfadinders Europas.“ Und des Weiteren fügt der Rundenmeister hinzu: „Hast du daran gedacht, dass der Weg nicht an der Grenze aufhört? Fühlst du dich bereit, den Abstand zu überbrücken, der dich von den anderen trennt?“

Das Ziel der Roten Stufe ist es, das zu erreichen, was ihr die „Einheit des Lebens“ nennt: es geht darum, eure tiefen und gerechtfertigten Wünsche mit dem Willen Gottes für euer Leben in Einklang zu bringen. Sprechen wir vom Einklang: ich greife ein Beispiel heraus: ich bin Scout d’Europe und habe mein Versprechen abgelegt. Wenn ich am Samstagabend bis Sonntagmorgen feiern gegangen bin und die Sonntagsmesse verpasst habe, kann ich sagen, dass ich Christus vor die Tür meines Lebens gesetzt habe. Ja, steht mein Handeln im Einklang mit dem Pfadindergesetz? Dieses „geistliche Aufarbeiten“ könnt ihr mit dem Raiderpaten und dem geistlichen Begleiter leisten, und ihr wisst, dass es ein Sakrament gibt, um euch mit Gott und euren Brüdern zu versöhnen. Dieses Sakrament haben wir gestern Abend gefeiert: das Sakrament der Buße oder der Beichte. Könntet ihr mit Blick auf die Heilige Messe, mit Blick auf die eucharistische Kommunion, wie Guy de Larigaudie, sagen: „Auf der Straße meines Lebens war die tägliche Kommunion für mich jeden Morgen das Bad im eiskalten Wasser, das all unsere Muskeln kräftigt und lockert, das sättigende Brot vor der Tagesetappe, der zärtliche Blick, der Kühnheit und Vertrauen verleiht“?

Diese menschliche und geistliche Reifung führt euch Schritt für Schritt zur klaren Erkenntnis eurer Berufung, ganz gleich, um welche es sich handelt. Es gibt die Berufung zur christlichen Ehe: seid ihr bereit, euch in das schöne Abenteuer des Ehesakraments zu stürzen – in einer Gesellschaft der westlichen Länder, die Gesetze erlässt, die auf die Pervertierung der Familie abzielen, bis hin zum Mord am Embryo, der – daran muss man immer wieder erinnern – ab dem Augenblick der Empfängnis ein menschliches Wesen ist und infolgedessen ein unantastbares Recht auf Leben hat? Hierzu möchte ich an das erinnern, was der heilige Papst Johannes Paul II. der kommunistischen Regierung seines Landes 1979 bei seinem ersten Papstbesuch in Polen sagte: „Christus aus der Geschichte des Menschen auszuschließen ist eine Handlung gegen den Menschen“. Das war in Warschau, und drei Tage später fügte er in Tschenstochau hinzu: „Die Völker müssen sich auf dem Gesetz Gottes gründen, ansonsten gehen sie unter!“ Das Abendland ist vom sicheren Tod bedroht, wenn es mittels der Genderideologie sein teulisches Programm der Zersetzung und der Vernichtung der Ehe und der Familie, wie sie von Gott gewollt sind, fortsetzt. Einzig und allein die Verbindung von einem Mann und einer Frau stellt eine Ehe und eine Familie dar. Jede andere Form der Verbindung ist eine Farce, die unser Menschsein erniedrigt und entehrt, das durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes veredelt und zur Vergöttlichung bestimmt worden ist. Wie es der Heilige Irenäus von Lyon sagt: „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott wird.“ Ja, die Ehe und die Familie zu zerstören ist ein Verbrechen gegen die Menschheit und eine Beleidigung Gottes! Darum, Roverpfadinder – bist du bereit, dich durch dein Zeugnis als zukünftiger Ehemann und Familienvater an der Verteidigung und der Förderung der Familie und des Lebens zu beteiligen?

Der Roverpfadinder kann auch von Gott zum ‚höchsten Dienst‘ berufen werden, im Priester- oder im Ordensstand. Ich weiß, dass eure Bewegung der Kirche viele Diözesanpriester, Missionare, Mitglieder verschiedener Kongregationen und auch Mönche geschenkt hat. Wie viele Seminaristen und Priester können bezeugen, dass ihre Berufung in eurer schönen Schule der Pfadinderei gereift ist, die vom Egoismus und von der Bequemlichkeit abbringt! Wenn der Pfadinder sein Versprechen ablegt, wenn er seinen Roveraufbruch vollzieht, dann bekräftigt er dadurch, dass er Christus den ersten Platz im Herzen seines Lebens gibt, und das Lager oder die Fahrt eine Art „Einkehr unter freiem Himmel“ ist, wo er den Ruf, sich dem Herrn zu weihen, hören kann. Lasst also das Gebet, das heißt Meditation und Anbetung, in euch reifen, denn wie ich es im Buch ,Gott oder nichts‘ geschrieben habe : „Ich denke, dass die Menschen wie die Bäume Wurzeln brauchen, die sich von der besten Erde ernähren lassen können, die ganz einfach das Erbe und die jahrtausendealte Tradition des Christentums ist. Die Meinungsvielfalt in einer von Informationen überschwemmten Gesellschaft darf nicht die jahrhundertealte Tradition der Kirche ausklammern. Der beste Weg, um das zu verstehen und zu vermitteln, verläuft über das innere Leben in Gott!“ Ich beschließe diese Predigt, indem ich euch das folgende schlichte Wort mit auf den Weg gebe, an das ihr euch werdet erinnern können: es heißt ‚die Farbe Rot‘. Ihr seid in der „Roten Stufe“ des Pfadindertums, und ich bin in gewisser Weise in der „Roten Stufe“ der Kirche, ihr als Rover und ich als Kardinal der Heiligen Römischen Kirche! Ihr wisst: diese Farbe Rot ist das Blut Christi und der Märtyrer, das das Zeremoniell des Roveraufbruchs in folgenden Worten zur Sprache bringt : „Empfange […] [die Farbe] Rot, Farbe der Rover, Symbol der Liebe und des Blutes, damit du dich nicht scheust, weder das eine noch das andere zu geben, wenn es in deinem Leben gefordert wird.“ An dem Tag, an dem mir der Heilige Vater Benedikt XVI. im Jahr 2010 den Kardinalshut aufgesetzt hat, hatte er in seiner Predigt gesagt: „Euer Dienst ist schwierig, denn er entspricht nicht der Denkweise der Menschen … Die rote Farbe eures Gewandes verweist auf das Blut, das Symbol des Lebens und der Liebe: das Blut Christi, das einer antiken Ikonographie zufolge Maria aus der durchbohrten Seite ihres am Kreuz gestorbenen Sohnes auffängt.“ Deshalb erlaube ich mir – bis jetzt habe ich euch „Pfadinderfreunde“ genannt – jetzt „Pfadinderbrüder“ zu sagen. Ich empfehle euch Unserer Lieben Frau vom Weg, die der Heilige Bernhard den Stern nannte, „der im Himmel glänzt, in der Hölle strahlt, die Welt erleuchtet, die Seelen wärmt, die Laster verbrennt und die Tugenden entlammt“. Sie führt euch hin zur Sonne der Gerechtigkeit, zu Christus, dem Herrn. Mögt ihr am Abend eures Lebens die Worte Guy de Larigaudies zu euren eigenen machen können, der seiner Schwester am Tag vor seinem Tod im Feld schrieb : „Ich habe tief in mir immer die Sehnsucht nach dem Himmel verspürt, jetzt aber, wo ich das Schöne in dieser Welt besser kenne, noch mehr. Der Himmel wird die Entfaltung all dieses Schönen sein, das Leben führt uns dorthin, auf einem Weg, dessen Länge wir nicht kennen; aber warum soll ich darüber betrübt sein, auf diesem Weg voranzuschreiten, da doch am Ende das Licht ist?“

Möge Gott euch segnen und euch weiterhin auf dem schönen Weg der Rover der Scouts d’Europe begleiten.

AMEN.

(Erschienen in PM 1/2017, S. 9-11)

Link zum ersten Teil.

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