Ein Roverpfadfinder, der nicht alles gegeben hat, hat nichst gegeben (Teil 1)

Text der Predigt Kardinal Sarahs im Rahmen der Vézelay – Wallfahrt der Roverpfadfinder der Scouts d‘Europe

Im Folgenden drucken wir den ersten Teil der Predigt ab, die Robert Kardinal Sarah, Präfekt der Sakramentenkongregation in Rom, am 31.10.2016 beim Pontifikalamt in Vezelay gehalten hat. In seiner Homilie bezieht er sich immer wieder auf Texte aus dem Zeremoniell der KPE und betont, wie großartig und herausfordernd die Vision des katholischen Pfadfinderideals ist (übersetzt von Andreas Müller).

„Ein Roverpfadfinder, der nicht alles gegeben hat, hat nichts gegeben.“

Liebe Freunde, liebe Raider- und Roverpfadfinder der Scouts d’Europe,

In diesen gleichermaßen großartigen und anspruchsvollen Worten – die gerade deshalb großartig sind, weil sie anspruchsvoll sind – habt ihr einen Auszug aus dem Zeremoniell zum Roveraufbruch wiedererkannt. Nachdem der neue Roverpfadfinder sie vernommen hat, kniet er vor dem Priester nieder, um den Segen Gottes zu empfangen, dann entfernt er sich allein in die Nacht, „in Begleitung der Schar der Heiligen“ (Zitat aus dem Zeremoniell), während seine Pfadfinderbrüder, die zurücktreten und ihm den Weg freigeben, im Fackelschein „Den Sternen gleich“ singend (aus dem Lied zum Roveraufbruch).

Stellen wir uns folgende Frage: Läuft dieser neue Roverpfad¬nder, der sich in den Wald entfernt, planlos ins Ungewisse? Die Antwort lautet Nein, und diese Antwort findet ihr, liebe Pfadfinderfreunde, genauso in die Steine dieser Basilika eingeschrieben wie in eure Grundlagentexte der katholischen Pfad¬nderbewegung. Diese hat der Jesuitenpater Jacques Sevin verfasst, während er das Kreuz Jesu Christi betrachtet hat, unseres Erlösers, den er „den Anführer schlechthin“ nannte. Heute Morgen hallen diese Worte aus eurem Zeremoniell in diesem prächtigen Gotteshaus wider, einem erhabenen Juwel der mittelalterlichen Christenheit: genau hier, in Vézelay, kündete am Ostertag 1146 der Heilige Bernhard von Clairvaux von der Schändung Edessas und der Bedrohung für das Heilige Grab in Jerusalem.

Er rief die Ritter, die das Kreuz Christi auf sich nehmen wollten, zu Demut, Gehorsam und Opfer auf. Für euch, die Scouts d’Europe, gehört die Christenheit aber keiner längst vergessenen Vergangenheit an; denn das dritte Prinzip eurer Bewegung besagt, ich zitiere:

„Als Sohn der Kirche ist der Pfadfinder stolz auf seinen Glauben. Er arbeitet daran, das Reich Christi in seinem eigenen Leben und in der Welt, die ihn umgibt, zu errichten.“

Liebe Pfadfinderfreunde: diese Worte aus eurem Zeremoniell sind das Echo anderer Worte, die vor sehr langer Zeit der Heilige König Ludwig selbst in seiner Jugend gesprochen hat – die seines Rittereides. Das geschah Mitte November 1226 in Soissons, auf dem Weg nach Reims; dorthin reiste er, um zum König von Frankreich gekrönt zu werden. Wie ihr, kam der Heilige Ludwig gern als Pilger nach Vézelay, zum letzten Mal in seinem Todesjahr 1270. Zu Beginn der Ritterschlags Zeremonie hatte der Heilige Ludwig diese Worte aus dem Mund des Bischofs vernommen: „Wenn du Reichtum oder Ehren suchst, bist du nicht wert, zum Ritter geschlagen zu werden.“ Ludwig IX. verneigte sich vor der Johanniterfahne, dem Banner, das ihr heute noch führt, mit dem Kreuz, dessen acht Spitzen für die acht Seligpreisungen stehen. Dann versprach er, die heilige Kirche zu schützen und an all ihre Lehren zu glauben, die Schwachen zu verteidigen, vor allem die Witwen und Waisen, und Frauen mit Höflichkeit und Respekt zu begegnen (Zu diesem Gesichtspunkt rufe ich euch den fünften Artikel des Pfadfindergesetzes ins Gedächtnis: „Der Pfadfinder ist höflich und ritterlich.“). Außerdem versprach er, aufrichtig zu sein sowie das Böse und das Unrecht zu bekämpfen. Mit anderen Worten: Der Ritter der mittelalterlichen Christenheit sollte sein Leben mit den drei Worten in Einklang bringen, die ihr so gut kennt: „Freimut, Hingabe, Reinheit“ – den drei Haupttugenden der Pfadfinderei. Sie sind, wie ihr wisst, die Zusammenfassung des Pfadfindergesetzes mit seinen zehn Artikeln, das euch Pater Sevin als geistliches Testament hinterlassen hat. Seid also bis zur völligen Hingabe eures Lebens immer aufrichtig, mutig und voller Selbstlosigkeit gegenüber eurer Heimat und der Kirche. Seid glücklich und stolz auf die Reinheit und Jungfräulichkeit eures Herzens und eures Körpers, inmitten einer egoistischen und sexbesessenen Gesellschaft.

Ja, liebe Freunde, ihr müsst euch des Erbes bewusst sein, das euch eure Führungen weitergegeben haben. Denn das Leben eines Pfadfinders – euer Leben – besteht aus diesen Bezugnahmen auf die Geschichte, auf diese Tugenden, die eure Seelen als Getaufte nähren. Und wenn es euch heute Morgen, in diesem herrlichen Schiff aus Stein, leichter fällt zu beten als gewöhnlich, dann auch deshalb, weil diese Tugenden – Mut, Loyalität, Treue, Ganzhingabe bis zum Martyrium – sich in den Steinen dieser Basilika widerspiegeln, besonders in der Christkönigsskulptur, die ihr im Giebelfeld der Vorhalle bewundern könnt. Heute Morgen in dieser Basilika, deren Steine gewissermaßen jahrhundertealte Zeugen für all die Männer und Frauen sind, die vor euch von ihrem Glauben Zeugnis abgelegt haben, seid ihr, liebe Rover der Scouts d’Europe, in den Worten des heiligen Apostels Petrus die „lebendigen Steine“, die sich zu dem geistigen Haus aufbauen lassen, das den Namen ‚Kirche‘ trägt (vgl. 1 Petr 2,5). Ja, wenn die Steine dieses geweihten Gebäudes reden könnten, dann würden sie ohne jeden Zweifel singend Gott und das Hochzeitsmahl des Lammes rühmen, das in unserer Liturgie schon gegenwärtig ist, der Liturgie der Kirche, mit dem gregorianischen Gesang, ihrem schönsten Schmuckstück. (…)

Teuerste Rover der Scouts d’Europe, ihr seid die Erben dieser demütigen und festen Treue eurer Vorgänger. Lasst euch nicht von einem Europa mitreißen, das trunken ist von seinen mannigfachen Ideologien, die der gesamten Menschheit viel Leid zugefügt haben. Denkt an den Marxismus und seine Gulags, an den Nationalsozialismus und seine Schrecken, und heute an die Gendertheorie, die die Gesetze Gottes und der Natur direkt angreift (…) Ihr seid die Gegenwart und die Zukunft Europas und der Kirche. Ihr habt die Kräfte und den Glauben, und euer Festhalten an Jesus Christus wird es euch ermöglichen, das christliche Erbe und die europäische Gesellschaft wiederaufzubauen.

In der ersten Lesung dieser Messe liefert euch der heilige Apostel Paulus das Geheimnis der Freude, die eure Raider- und Roverrunden beseelen muss: Er ermutigt euch, euch in Momenten der Prüfung gegenseitig aufzurichten, einmütig zu sein, und vor allem die Demut zu üben, die der Völkerapostel so beschreibt: „dass ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den anderen höher ein als sich selbst.“ (Phil 2, 3). Lesen wir das nicht auch im Zeremoniell des Roveraufbruchs: „Willst du in allem demütig das Wahre suchen und frei der gefundenen Ordnung dienen, ohne die anderen unter dem Gewicht deiner Entdeckung zu erdrücken?“ Ja, für den Rover gilt, was wir gerade im Tagespsalm gesungen haben: „Herr, mein Herz ist nicht stolz, nicht hochmütig blicken meine Augen. Ich gehe nicht um mit Dingen, die mir zu wunderbar und zu hoch sind“ (Ps 131,1). Diese Demut besaß auch Guy de Larigaudie, den ihr den „legendären Rover“ nennt, gestorben am 11. Mai 1940 für Frankreich. Er hat ausgerufen: „Es ist ebenso schön, um der Liebe Gottes willen Kartoffeln zu schälen wie Kathedralen zu bauen.“

Die Demut ist jedoch die Frucht eines geistlichen Kampfes, den ihr nicht allein führen könnt. Deshalb gibt euch die Pädagogik der Roten Stufe zwei Mittel an die Hand, die es euch ermöglichen, euer Leben einheitlich zu gestalten und so in der Heiligkeit zu wachsen: Zeugen, in der Person des Roverpaten und des geistlichen Begleiters, und die Stille Stunde.

Zunächst habt ihr euren Roverpaten und euren geistlichen Begleiter an eurer Seite. Euer Leben gleicht einem Berg, den ihr besteigen müsst. Bei diesem Aufstieg leistet der Roverpate, der selbst Roverpfadfinder sein muss, den Vorstieg. Denn wie es jede Führung tun muss, geht er euch voraus und meißelt Stufen in den Eishang eures Daseins; mit dem Eispickel schlägt er präzise und zeichnet euch einen Weg vor, den Weg, der euch zur Einheit eures Lebensstils hier auf Erden führt, mit Blick auf den großen Aufbruch, den zum Himmel. Bedenkt, dass die Führung, die euch auf der Straße des Lebens vorausgeht, weiter sehen kann als ihr. Daneben steht auch der geistliche Begleiter dicht bei euch, der Priester, der euch dieses Wort Jesu weitergibt: „Meine Gnade genügt dir“ (2 Kor 12,9), damit ihr der Falle des eigenen Durchsetzungswillens entgeht. In seinem täglichen stillen Gebet sah Pater Sevin, wie sich eine Hand auf die Schulter des Pfadfinders legte, „eine feste und deutlich zu erkennende Hand“, sagte er, „die unfehlbare Hand dessen, der allein gesagt hat: ‚Ich bin der Weg‘, unser Herr Jesus Christus“. Ihr seid dazu aufgerufen, diese Gegenwart Jesu in der Tiefe der Stillen Stunde zu entdecken, die ihr jeden Tag halten sollt, nach dem Vorbild der Benediktinermönche, die ihre harte Arbeit (labora) nur unterbrechen, um sich ins Lobgebet und in die Anbetung (ora) zu versenken. Ist nicht der Heilige Benedikt, der Patron des christlichen Europa, auch euer heiliger Patron? Die Stille Stunde ist ein täglicher Rückzug in die Stille, eine Suche nach dem lebendigen Gott, der in euch gegenwärtig ist. Wenn ihr die Stille Stunde beharrlich einhaltet, dann werdet ihr in eurem Herzen die Worte hören, die in der Seele Pater Sevins widerhallten. Jesus, « der Anführer schlechthin », wird euch sagen: „Hebe den Blick, mein Sohn, halte einen Moment inne… Streck die Hand aus, mein Sohn, damit du deinen Weg kennenlernst; der Pfadfindermeister bin ich – ich, dessen göttliche Gegenwart immer an deiner Seite ist, ganz gleich, was passiert“ (vgl. Le scoutisme, 1930).
Fortsetzung folgt.

(Erschienen in PM 138 4/2016, S. 12-13)

Link zum zweiten Teil.

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