Die Idee von Brownsea Island: Heute noch aktuell?

von Christine Zuleger

29 Juli 1907. Frische Seeluft wehte über den Hafen. Bill Harvey wartete auf seine Gäste, die er mit der Hyacinth, seinem Fährboot, auf die Insel Brownsea bringen sollte. Voller Spannung und fröhlich miteinander redend bogen die 20 Jungen aus London, Poole und Bournemouth mit einer der bekanntesten Persönlichkeiten des Vereinigten Königreiches um die Ecke: Baden-Powell (BP). Wie würde dieses Experiment eines ersten Pfadfinderlagers wohl ausgehen?

15 Juni 2017. Fast seit Beginn des Pfadfinderjahres hatten sie sich auf dieses Lager vorbereitet: Bauwerke hergestellt, Pfadfindertechniken geübt, Ideen gesammelt, verworfen und in die Tat umgesetzt. Fröhlich lachend und erwartungsvoll begrüßten sich die Mädchen aus allen Teilen Deutschlands – alte Bekannte und neue Gesichter. 110 Jahre des ersten Pfadfinderlagers auf Brownsea Island war ein großes Thema des Lagers. Was würde sie auf diesem Hildegardiswettkampf, dem vierjährlich stattfindenden Wettkampf zwischen Pfadfinderinnen, erwarten?

Fernab aller Öffentlichkeit in der freien Natur sollte BPs erstes Lager stattfinden. Der Test seiner Ideen. Die Umsetzung seines Zieles, junge Menschen zur vollen Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu führen. Die Vision einer ganzheitlichen Erziehung. Eine der Grundlagen war die Einteilung der Jungen in Kleingruppen, die jeweils einer der älteren Jungen führen und für die er voll verantwortlich sein sollte. So sollten die Jugendlichen dazu erzogen werden, Verantwortung zu übernehmen, Zuverlässigkeit, Teamwork und Selbstvertrauen zu erlernen. Diese Fähigkeiten der Jungen wollte er als Leiter des Lagers ausbauen, nicht so sehr durch Kontrolle als durch die Führung der Jugendlichen. So teilte er die 20 Jungen in 4 kleine Gruppen, Patrouillen genannt, ein: die Raben, Brachvögel, Wölfe und Bullen.

Den Gildenführerinnen (GFs) wurden im Rat der Ablauf des Tages und bisherige Rückmeldungen bekannt gegeben, was sie selbst wiederum ihren Pfadfinderinnen weitergaben. So konnte ein reibungsloser Ablauf verwirklicht werden. Die erste große Herausforderung wartete schon: Jede Gilde sollte innerhalb von etwa drei Stunden eine zuvor ausgedachte Lagerbaute aus Holz errichten.

Theoretischen Unterricht gab es schon genug in der Schule. BP war von einer anderen Erziehungsmethode überzeugt: Learning by doing. Einer kurzen Anleitung, die oft mit einer spannenden Geschichte aus seinem Leben verbunden wurde, folgte die praktische Übung einer Technik, wie etwa das Spurenlesen, die spielerisch vertieft und angewendet wurde:

Der junge Percy versteckte sich hinter einem Baum. Die anderen müssten etwa vor 10 Minuten losgegangen sein. Wenn sie die Technik von heute Morgen verinnerlicht hatten, sollten sie seine Spuren gefunden haben. Dann würden sie bald in seine Nähe gelangen. Er würde bereit für ihr Kommen sein.

Sophia rannte so schnell sie konnte. Die anderen Späher war ihr dicht auf den Fersen. Endlich hatte sie das Lager BPs erreicht. Ihre Gilde hatte wieder erfolgreich die Aufgabe eines Burenhäuptlings erledigt, sodass dies im Lager BPs eingetragen werden konnte.

Beim Großen Spiel mit dem Thema „Die Belagerung Mafekings“ mussten die Pfadfinderinnen ihre Pfadfindertechniken unter Beweis stellen, sei es durch die Unterscheidung giftiger und nützlicher Pflanzen oder durch das Entwickeln kreativer Ideen, etwa eines Mittels zum Überqueren eines (wenn auch nur imaginären) Flusses.

Das Lager übertraf seine Erwartungen. Die Jungen lernten schnell und mit Freude. Ihre Fähigkeiten entfalteten und entwickelten sich zusehends. Dazu trug auch die Umgebung Brownsea Islands, die unberührte Natur, bei. Hier gab es so viel zu entdecken und zu lernen. Hier war das Leben auf das Einfachste beschränkt, sodass die Kreativität der Jugendlichen zur vollen Entfaltung kommen konnte. Später würde er die Jungen dazu anspornen, diese Fähigkeiten durch Erprobungen auszubauen. So sollten die Jugendlichen dazu ermutigt werden, beständig an ihrer fachlichen und persönlichen Entwicklung zu arbeiten.

Der große Moment war gekommen. Nun sollten die Pfadfinderinnen ihre neue Expressionstechnik vorstellen. Alles schwieg, die Taschenlampen waren auf sie gerichtet, nun konnte es losgehen. Geschichten über das Leben BPs oder des Pfadfindertums zogen pantomimisch, dargestellt durch weiße Handschuhe oder mit Schattenspiel vor den Augen der anderen Pfadfinderinnen vorbei. Ein buntes und interessantes Spektakel mit vielen kreativen Ideen.

Ritterlichkeit und Selbstlosigkeit waren Thema dieses Lagertages. Verhalten, das jeder der Jungen verinnerlichen und durch gute Taten verwirklichen sollte. Dieses wertebasierte Verhalten gehörte ebenfalls zur Vision BPs von einer ganzheitlichen Erziehung und wurde später im Pfadfindergesetz  festgeschrieben. Durch das Versprechen bestätigte der Pfadfinder seine freigewählte Entscheidung, diesen Verhaltenskodex anzuerkennen,  anzustreben und danach zu handeln.

„Warum sind die Christen denn nicht immer in der Kirche, wenn sie wirklich glauben, dass die Hostie tatsächlich ihr Gott ist?“. Spannend und lebendig vermittelten die Lagerkuraten den christlichen Glauben, der ein wesentlicher Teil des Pfadfinderseins ist. Aus diesem Glauben entsprang das ansteckend fröhlichem und freundschaftliche Verhalten der Pfadfinderinnen untereinander. Diesen Glauben zeigten sie gemeinsam mit der Gemeinde vor Ort, als sie in der Fronleichnamsprozession mit Gott durch die Straßen zogen.

Was sich wohl Percy Medway am Ende des Lagers auf Brownsea Island gedacht haben mag? Was wohl Sophia aus dem Hildegardiswettkampf mit nach Hause genommen hat? Eines steht jedenfalls fest: beide Lager waren ein voller Erfolg.

Ausgehend von dem Lager auf Brownsea Island verbreitete sich die Ideen BPs und die Pfadfinderbewegung immer schneller und ist auch heute noch brandaktuell. Die Ausbildung Jugendlicher zu verantwortungsvollen, selbstbewussten und charakterfesten Persönlichkeiten ist eine Aufgabe, die durch zeitlose Methode BPs auch in heutiger Zeit notwendig ist und erleichtert wird.

Quellen:
https://www.thescoutingpages.org.uk/first_camp.html
http://scoutdocs.ca/Documents/Fundamental_Principles.php

(Erschienen in PM 140 2-2017, S. 21-23)

 

 

 

 

 

 

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