Das Heil kommt von den Juden (Joh 4,22)

Weihnachten als Geburt des Messias

von P. Markus Christoph

An Weihnachten feiern wir die Geburt unseres Erlösers, des Messias. Auf ihn  hat die Menschheit seit Jahrhunderten gewartet… Nein, das stimmt nicht! Jesus wurde in Betlehem nicht als verheißener Retter der Welt geboren,  sondern als Messias der Juden. Als Jesus in seinem öffentlichen Wirken von einer kanaanäischen Frau, d.h. einer Heidin, um ein Wunder gebeten wurde,  antwortete er: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24). Durchaus korrekt war auf der Kreuzesaufschrift sein Amt zusammengefasst: „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (Mt. 27,37).

Freilich, als viele Juden Jesus als Messias ablehnten, wandte er sich auch Nicht-Juden zu. Bereits im Evangelium begab sich Jesus immer wieder in heidnische Gebiete und wirkte dort Wunder. Und bei der Himmelfahrt lautete schließlich sein Auftrag zur Mission: „Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19). Trotzdem war (und bleibt) Jesus an erster Stelle der Messias Israels. Und darum blieb (und bleibt) für die Kirche der Bezug zum Judentum ganz wesentlich. Von Anfang an sah man sich in der Tradition Israels. Paulus verdeutlicht diese Abhängigkeit mit dem Bild des Ölbaums (vgl. Röm 11,16-24): Das auserwählte Volk Israel gleicht einem heiligen Ölbaum, aus dem einige Zweige herausgebrochen wurden –diejenigen, die Jesus als Messias blehnten. An ihrer Stelle wurden Zweige eines wilden Ölbaums eingepfropft – nämlich Menschen aus allen Völkern, die zum Glauben an Jesus gekommen waren. Durch die Taufe erhalten diese Heiden Anteil an der besonderen Auserwählung Israels. Nach diesem Verständnis des Paulus ist die Kirche keine Neugründung „neben Israel“, sondern sie nimmt unverdient teil an der besonderen Berufung Israels und an der Erfüllung dessen, was Gott dem Volk der Juden verheißen hat.1 Und darum konnte der hl. Papst Johannes Paul II. von den Juden als „ältere Brüder“ der Christen sprechen.²

Diese „theologische Verwandtschaft“ zwischen Juden und Christen beschränkt sich nicht nur darauf, dass wir uns beim Beten zum gleichen Gott als Bezugspunkt hinwenden – nämlich zum „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Apg 3,13). Sie lässt sich vielmehr konkret nachvollziehen, wenn man das religiöse Leben der beiden Glaubensgemeinschaften vergleicht. Ist uns bewusst, wie viele Elemente des jüdischen Gottesdienstes in unsere katholische Gebetspraxis eingegangen sind? Im Bereich der Sakramente, im religiösen Brauchtum, ja selbst bei Gebetsformulierungen? Das Geburtsfest des Messias ist eine gute Gelegenheit, sich klar zu machen, wie stark das jüdische Erbe unsere christliche Gottesverehrung bis zum heutigen Tag prägt und wie groß unsere Dankesschuld dem auserwählten Volk gegenüber ist.

Die jüdischen Wurzeln unserer Sakramente

Die Opfer der Juden wurden an einem besonderen Ort, nämlich im Tempel dargebracht; auch wir feiern das Opfer Christi in der heiligen Messe nicht irgendwo, sondern in der Kirche. Neben dem Opfergottesdienst gab es im Judentum Synagogen, wo gebetet und die Schrift gelesen wurde; auch wir kennen Wortgottesdienste; die heilige Messe ist gewissermaßen ein Mix aus diesen beiden Formen des jüdischen Gottesdienstes. Der alttestamentliche Priester Melchisedek brachte Brot und Wein als Opfer dar (Gen 14,17ff). In der Eucharistie werden Brot und Wein geopfert und verwandelt. Auf dem Altar im Tempel lagen Schaubrote (1Kg 7,48); auf unseren Altären bzw. im Tabernakel befinden sich die konsekrierten Hostien. Salomon stellte auf den Altar zwei Reihen von Kerzen (1Kön 7,49); auf unseren Altären brennen Kerzen. Am Tempeleingang gab es ein großes Wasserbecken namens „Meer“ zur kultischen Reinigung (1Kön 7,23); bei uns gibt es Taufbecken zur Reinigung der Seele, und die Weihwasserbecken am Kircheneingang erinnern uns an unsere Taufe. Im Tempel wurden Rauchopfer dargebracht (1Mak 4,50); ebenso verwenden wir Weihrauch.

Die Vorbilder der heiligen Messe im AT sind also unübersehbar. Aber auch die anderen Sakramente haben ihre Wurzeln im AT. Die Aufnahme in das geheiligte Volk geschah durch den einmaligen Ritus der Beschneidung; die Aufnahme in die Kirche geschieht durch die unwiederholbare Taufe. Schwere Gesetzesverstöße waren beim Priester zu melden und durch Opfer zu sühnen; auch wir bekennen dem Priester unsere Sünden und verrichten eine Buße. Die Priester des AT wurden durch einen besonderen Ritus geweiht (Num 8,5ff); ebenso die Priester der Kirche. An mehreren Stellen im AT werden Menschen durch Handauflegung vom Heiligen Geist erfüllt (z.B. Dtn 34,9); im NT wird den Menschen in der Firmung durch Handauflegung die Fülle des Heiligen Geistes verliehen.

Das religiöse Brauchtum Israels als Grundlage unserer Glaubenspraxis

Nicht nur die Sakramente, sondern auch unsere alltägliche Glaubenspraxis baut auf jüdischen Bräuchen auf: Den Israeliten war aufgetragen, „täglich am Morgen und am Abend auf dem Brandopferaltar dem Herrn Opfer darzubringen […]“ (1Chr 16,40). Auch wir kennen das Morgen- und Abendgebet. Im Alten Testament wurde für die Verstorbenen gebetet und geopfert, „damit sie von der Sünde befreit werden […]“ (2Makk 12,43ff). Genauso beten wir für unsere Verstorbenen um Erlösung aus dem Fegefeuer. Die Israeliten bewahrten persönliche Gegenstände von Propheten auf und verehrten sie, z.B. den Mantel des Elija (1Kön 2,14); auch wir ehren Reliquien. An vielen Stellen des AT treten Engel auf und begleiten Menschen (z.B. im Buch Tobit); auch die Kirche kennt Schutzengel und ruft sie an (z.B. das Schutzengelfest am 2.10.). Der Festkalender der Israeliten folgte einer festen Ordnung: Alle sieben Tage der Sabbat als Ruhetag, im Frühjahr das Osterfest, sieben Wochen später Pfingsten usw. (z.B. Lev 27). Den gleichen Wochenrhythmus halten wir Christen. Sogar der Zeitabstand mancher Feste ist identisch (z.B. Ostern-Pfingsten). Das AT berichtet an mehreren Stellen von 40-tägigen Fastenzeiten: Moses fastet 40 Tage auf dem Berg Sinai (Ex 24,18), ebenso Elias in der Wüste (1Kön 19,12). Das ganze Volk darbt 40 Jahre in der Wüste (vgl. Num). Jesus führt diese Tradition mit seinem 40-tägigen Fasten fort, und bis zum heutigen Tag entspricht unsere Fastenzeit diesen jüdischen Vorbildern. Dreimal im Jahr war den männlichen Juden eine Wallfahrt nach Jerusalem vorgeschrieben (Dtn 16,16). Noch heute praktizieren wir in der Kirche regelmäßig Wallfahrten zu
besonderen Heiligtümern.

Das jüdische Gebetbuch der Christen

Auch der christliche Gebetsschatz ist zu einem großen Teil von der Gebetstradition der Juden „abgeschaut“, nämlich aus dem Buch der Psalmen. Das Neue Testament selbst enthält nur sehr wenige Gebete oder Hymnen, wie z.B. das Vater Unser. Ein eigenständiges Gebetbuch fehlt, denn die christliche Gemeinde hat von Anfang an die jüdischen Psalmen gebetet. Und bis zum heutigen Tag besteht das kirchliche Stundengebet, das sog. „Brevier“, zu dem alle Priester und Ordensleute verpflichtet sind, zum allergrößten Teil aus der simplen Aneinanderreihung der Psalmen aus dem Alten Testament. Alle menschlichen Situationen und Stimmungen werden in diesen jüdischen Gebeten auf unübertroffene Weise ausgedrückt und vor Gott gebracht. Mit den Psalmen kann man…

  • …danken: „Dankt dem HERRN, denn er ist gut, denn seine Huld währt ewig! So soll Israel sagen: Denn seine Huld währt ewig…“ (Ps 118).
  • …sein Vertrauen erneuern: „Der HERR ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser…“ (Ps 23)
  • …klagen: „Höre, HERR, meine Worte, achte auf mein Seufzen! Vernimm mein lautes Schreien, mein König und mein Gott, denn zu dir flehe ich…“ (Ps 5)
  • …bereuen: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! Wasch‘ meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen…“ (Ps 51)
  • …seine Sehnsucht ausdrücken: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, nach dir, Gott. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott… (Ps 42)
  • …Gott loben: „Halleluja! Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner mächtigen Feste! Lobt ihn wegen seiner machtvollen Taten, lobt ihn nach der Fülle seiner Größe!“ (Ps 150)

Jede menschliche Situation kommt in den Psalmen zum Ausdruck. Noch mehr: Obwohl die Psalmen lange vor Christus gedichtet wurden, sprechen sie oft prophetisch vom kommenden Messias und damit – nach christlicher Überzeugung – von Christus. So bekennt z.B. Psalm 110 über Jesus: „Der HERR hat geschworen und nie wird es ihn reuen: Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“ (Ps 110,4). Psalm 2 lässt den kommenden Messias sprechen: „Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt“ (Ps 2,7). Psalm 22 sagt sehr präzise das Leiden Jesu voraus: „Sie haben mir Hände und Füße durchbohrt. Ich kann all meine Knochen zählen; sie gaffen und starren mich an. Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand“ (Ps 22,17-19).

An den Psalmen wird besonders deutlich, wie eng das Christentum das Judentum voraussetzt, auf ihm aufbaut und in welcher Dankesschuld wir gegenüber unseren älteren Brüdern stehen.

Die Berufung Israels als die Fülle des Heils

Aber haben die Juden ihre Berufung als auserwähltes Volk nicht verspielt? Sind sie – weil sie ihren Messias nicht angenommen haben – heute nicht ein „verfluchtes Volk“? Oder wenigstens nur noch ein „gewöhnliches Volk“ ohne besondere Erwählung? Leider war diese Meinung zu manchen Zeiten weit verbreitet und unter Berufung auf diese theologische Scheinbegründung wurde dem Volk Israel viel Unrecht getan. Auch im Namen der Kirche wurden solche Verbrechen begangen und es ist gut, dass die Kirche dafür mehrfach um Verzeihung gebeten hat.³

Das christliche Verständnis der heutigen Berufung Israels war nämlich von Anfang an ein anderes. Schon Paulus hat sich die Frage gestellt, ob das auserwählte Volk seine Bevorzugung aufgrund der Ablehnung des Messias nicht etwa verloren habe. Und er gibt eine eindeutige Antwort: „Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin ein Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er im Voraus erwählt hat“ (Röm 11,1-2). Auch wenn ein Teil der Juden ihren Messias bis zur Stunde nicht erkennt, so bleibt doch weiterhin bestehen: „Von ihrer Erwählung her gesehen aber sind sie Geliebte, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind die Gnadengaben und die Berufung Gottes“ (Röm 11,28-29). Das Volk Israel ist also auch heute in den Augen Gottes noch ein ganz besonderes Volk. Nochmals Paulus: „Ihnen gehören die Sohnschaft, die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse; ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen; ihnen gehören die Väter und ihnen entstammt der Christus dem Fleische nach. Gott, der über allem ist, er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen“ (Röm 9,4-5). Nach wie vor besteht in diesem Punkt ein unverlierbarer, besonderer Vorrang des jüdischen Volkes. Wir dürfen den Tag ersehnen, an dem das ganze Volk der Juden Jesus als seinen Messias erkennt und wir uns gemeinsam mit ihnen im Gebet dem Herrn, dem Messias Israels, zuwenden können – eingepfropft in die eine geheiligte Wurzel der Väter Israels.

Das Geburtsfest Jesu, des Messias der Juden, erinnert uns daran, dass Gott die Erlösung allen Menschen durch die Vermittlung der Juden geschenkt hat, dass wir alle darum unlösbar in ihrer Tradition stehen und wir in Dankbarkeit und Hochachtung mit unseren älteren Brüdern verbunden sind.

Literaturtipp
Eine gute Übersicht, wie katholische Gebetsformen in der Bibel und vor allem im Alten Testament begründet sind, bietet das Buch SCOTT HAHN, Signs of Life. Forty Catholic Customs and their Biblical Roots, London: Darton, Longmand and Todd 2009.

Fußnoten
1 In diesem Sinn erklärt das II. Vaticanum, „dass alle Christgläubigen als
Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind […]“ (Nostra Aetate 4).
² Papst Johannes Paul II. erklärte am 13. April 1986 in der Synagoge von Rom, dass „die Kirche Christi ihre »Bindung« zum Judentum entdeckt, indem sie sich auf ihr eigenes Geheimnis besinnt (vgl. Nostra Aetate, Nr. 4, Absatz 1). Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas »Äußerliches«, sondern gehört in gewisser Weise zum »Inneren« unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder […]“
³ Siehe dazu auch die Vergebungsbitte vom hl. Papst Johannes Paul II. am 12.03.2000 in St. Peter oder von Papst Benedikt XVI. am 17.01.2010 beim Besuch der römischen Synagoge. Bereits das II. Vaticanum hat hier richtiggestellt: „Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern“ (Nostra Aetate 4).

(Erschienen in PM 141 3-2017, S. 10-12)

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